Wie konnte es dazu kommen? Und was denken die Menschen aus dem Sonnenblumenhaus heute?
Dabei wollte Nguyen Dinh Khoi doch nur Obst verkaufen. Trauben, Apfelsinen, Bananen, die er vom Großmarkt in Hamburg holte. Morgens um vier stand er auf, stellte seinen Stand auf dem Platz am Glatten Aal auf, gleich gegenüber vom Rathaus, und breitete seine Früchte aus. Meist dauerte es dann nicht lange, bis die ersten Skinheads kamen. „Jede Woche ging das so“, erinnert er sich.
Stand aufbauen, Obst verkaufen, bedroht werden: So sah Herrn Khois Alltag aus, damals, im Frühjahr 1992 in Rostock, im Jahr des Pogroms von Lichtenhagen.
Nguyen Dinh Khoi ist heute 51 Jahre alt. Ein Vierteljahrhundert ist das alles nun her, und doch beginnt seine Stimme irgendwann zu stocken, als er von dieser Zeit erzählt. Vielleicht, weil er an die Frau denken muss, die ein paar Tage nach den Ausschreitungen von Lichtenhagen, nach der Jagd auf seine Landsleute, zu ihm an seinen Stand kam und sagte: „Wir sind nicht alle so. Ich schäme mich.“ Vielleicht aber auch, weil er an die Eisenstange denkt, die er sich in jenem Frühjahr in seinen Stand legte, als Waffe. „Irgendwann ging es nicht mehr ohne“, sagt Herr Khoi, wiederum fast entschuldigend.
Lichtenhagen, an einem sonnigen Tag Mitte August. Der elfstöckige Block an der Stadtautobahn ist inzwischen saniert, es gibt behindertengerechte Eingänge. Geblieben ist das Mosaik, das dem Block seinen Namen gab: das Sonnenblumenhaus. Auf der Wiese, von der aus die Angreifer Steine und Molotowcocktails auf das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter warfen, steht heute ein „Hammer“-Baumarkt. Im Erdgeschoss jenes Teils, in dem die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber untergebracht war, sitzt heute ein Bestattungsunternehmen. Und vor diesem Haus steht nun, noch verhüllt von schwarzer Folie und geschützt von einem Bauzaun, eine Stele, die daran erinnern soll, wie hier vor 25 Jahren Neonazis und andere Chaoten unter dem Beifall ganz normaler Bürger tagelang Ausländer bedrohen, beleidigen, randalieren und brandstiften konnten.
Das Pogrom von Lichtenhagen war auch das traurige Ende einer Entwicklung. Lichtenhagen hatte eine Vorgeschichte, die auch woanders spielt. In ganz Rostock, bei der Landesregierung in Schwerin und auch in Bonn.
Zu dieser Vorgeschichte gehört, dass Anfang der Neunzigerjahre rechtsradikale Parteien gegen die „Flüchtlingsflut“ hetzen, dass die Union das Asylrecht einschränken will und dass vor der überfüllten Anlaufstelle in Lichtenhagen wochenlang vor allem Rumänen im Freien kampieren. „Die waren nun plötzlich die Sündenböcke“, sagt der damalige Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter.„Wir hatten damals nichts im Griff, gar nichts“, sagt heute der erste stellvertretende Bürgermeister von damals, Wolfgang Zöllick. Und zu dieser Vorgeschichte gehört natürlich auch Herr Khoi.
Nguyen Dinh Khoi betreibt heute ein Cateringunternehmen. Damals, 1992, ist er einer von 368 Vietnamesen in Rostock, die meisten sind ehemalige Vertragsarbeiter. Herr Khoi war vier Jahre zuvor in die DDR gekommen, als Schweißer zum Industrieverband Fahrzeugbau nach Karl-Marx-Stadt. Nach der Wende wird er, wie so viele, arbeitslos. Deutschland ist mit sich selbst beschäftigt – was aus den asiatischen Gästen der DDR werden soll, kümmert erst mal keinen.
Nguyen Dinh Khoi jedoch will nicht zurück nach Vietnam. Also zieht er zu einem Freund nach Rostock und sucht sein Glück. Stellt sich an die Straße und verkauft erst den Eben-noch-DDR-Kindern Spielzeug aus dem Westen, später Kleidung. Vor allem aber macht er eine ernüchternde Erfahrung. „Wer eben noch freundlich war, reagierte nun feindlich“, sagt er. „Es wurde auf einmal sehr, sehr kalt für uns.“ Die Menschen suchen einen Schuldigen für ihr eigenes Unglück. So werden aus den geschätzten Arbeitern des sozialistischen Bruderlandes die Fidschis.
Zur selben Zeit, als Herr Khoi jeden Tag seinen Stand auf dem Rostocker Markt aufbaut und die Eisenstange hinter sich deponiert, kommen plötzlich sehr viele neue Menschen in die Stadt. Auf Lastwagen, so schildern es die Berichte aus jener Zeit, bringen die Schlepper sie zur Zentralen Aufnahmestelle nach Lichtenhagen, zum Block mit der Sonnenblume. Die Unterkunft jedoch ist mit dem Andrang überfordert. Tagelang müssen die Neuankömmlinge auf der Wiese zwischen den Blöcken verharren. Toiletten gibt es nicht, Geld haben sie nicht. Also schlafen sie unter Balkons, gehen in die Büsche und bedienen sich in der Kaufhalle. Jeden Dienstag, wenn im Rathaus der Bürgermeister und die Senatoren tagen, prangert der Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter die Zustände an. Doch was er zu hören bekommt ist: Das ist Sache des Landes. „Das war ein absolut hirnloses Hin und Her“, sagt Richter heute.
Richter, weißes Haar, weißer Vollbart, ist so etwas wie das Gesicht des Gedenkens an diese Krawalle. Er war in jenen Tagen selbst hier, im und vor dem Sonnenblumenhaus, und seit 25 Jahren erzählt er geduldig, was geschehen ist. Deshalb kennen sie ihn hier natürlich. Die Begegnung mit dem Bewohner des Sonnenblumenhauses verläuft angespannt. „So, das ist die Wahrheit“, sagt der Rentner, nachdem er von der Schuld der zugereisten Neonazis gesprochen hat. Und Richter widerspricht, bemerkenswert ruhig. Erklärt, dass das erst ab dem zweiten Abend stimmt. Dass es am Anfang die Einheimischen waren, die gebrüllt, geworfen, geklatscht haben. „Der erste Abend war ein reines Rostocker Ereignis“, sagt Richter bestimmt. Es gibt bis heute viele, die das nicht wahrhaben wollen.
Es gibt die Theorie, dass manchen Politikern die Bilder von campierenden Sinti und Roma im Rostocker Plattenbaugebiet ganz gut in die Agenda passten, um die Asylrechtsänderung ein bisschen dringlicher erscheinen zu lassen. Sie hätten Zustände bewusst eskalieren lassen, lautet der Vorwurf. Immerhin würde ein solch zynisches Kalkül zumindest die unfassbare Untätigkeit der Behörden erklären. Wer sich aber heute mit Wolfgang Zöllick unterhält, der kommt zu dem Schluss: Es war wohl einfach Unfähigkeit.
Die meisten Verantwortlichen von damals schweigen. Zöllick, heute 75 Jahre, redet. Als Sozialsenator war der CDU-Mann damals für die obdachlosen Flüchtlinge vor dem Sonnenblumenhaus letztlich mit zuständig. Weil der eigentliche Bürgermeister während der Ausschreitungen in Lichtenhagen Urlaub macht, ist er zu dieser Zeit höchster Vertreter der Stadt.
Zöllick sagt, das Land habe die Stadt damals immer wieder vertröstet. „Aber wir hätten aus heutiger Sicht natürlich auch selbst etwas tun müssen.“ Toiletten aufstellen, zumindest das. Warum das nicht geschehen ist, nicht mal das? Zöllick war Lehrer für Sport und Geografie. Unerfahren seien er und seine Kollegen gewesen. „Wir haben Fehler gemacht“, sagt er. Man darf es wohl auch als eine Art Wiedergutmachung verstehen, dass Wolfgang Zöllick redet. „Es muss daran erinnert werden“, sagt er, „damit so was nicht wieder passiert.“
Damals jedoch hält niemand die Verbrechen mehr auf. Zöllick, der zu der Zeit in Lichtenhagen wohnt, fährt jeden Abend zum Sonnenblumenhaus, versucht, auf die klatschende Menge einzureden. „Aber da war schon niemand mehr zugänglich“, sagt er. Wolfgang Richter wird am dritten Abend durch den rassistischen Mob und von den Flammen in dem Haus der vietnamesischen Arbeiter eingeschlossen. Er, 120 Vietnamesen und ein Team des ZDF können sich nur deshalb retten, weil es zwei der Vietnamesen gelingt, eine Tür zum Dach aufzuhebeln. „Für Angst“, sagt Richter, „blieb in dem Moment gar keine Zeit.“ Nguyen Dinh Khoi schließlich, der in der Rostocker Innenstadt wohnt, erfährt von den Krawallen erst, als ihn seine Eltern aus Vietnam anrufen, froh sind, dass er noch lebt.
Ob sich so etwas in Rostock wiederholen könnte? Da sagen alle drei sehr entschieden Nein. „Ich trage das Gute in meinem Herzen“, sagt Herr Khoi. Die Begegnungen mit Rostockern, die an seinen Obststand kamen und sagten, wie sehr sie sich schämten. Die alte Dame, die begann, ihm jeden Tag Brote an seinen Stand zu bringen. Rostock ist längst seine Heimat geworden. Es gibt den Verein, den die Vietnamesen als Reaktion gründeten, es gab 2015 die Unterstützung für die Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Skandinavien in Rostock strandeten.
Auch die Eisenstange hat er Herr Khoi damals irgendwann weggelegt. Aber erst, nachdem er sich mit anderen Vietnamesen zusammengeschlossen und den Nazis gedroht hatte, sich gemeinsam gegen sie zu wehren.
22. August 1992: Etwa 2000 Menschen versammeln sich am Abend vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, in dem die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber (ZAst) und ein Wohnheim für vietnamesische Arbeiter untergebracht sind. Ab 20 Uhr werfen rund 200 Jugendliche und Erwachsene unter dem Applaus von Anwohnern zertrümmerte Betonplatten auf beide Einrichtungen. Die zunächst nur 30 Polizisten sind hilflos. Erst nach 2 Uhr drängen zusätzliche Einheiten die Randalierer zurück.
23. August 1992: Rechtsextremisten aus der gesamten Bundesrepublik reisen nach Lichtenhagen. Bis zu 1000 Gewalttäter attackieren die Polizei mit Steinen und Molotowcocktails und dringen in das Sonnenblumenhaus ein. Erneut bestärken Anwohner und Schaulustige die Täter durch Applaus.
24. August 1992: Die ZAst wird geräumt. Erneut greifen Randalierer die Polizei an. Gegen 21.25 Uhr werden die Beamten aus bis heute nicht restlos geklärten Gründen zurückgezogen. Rund 120 Vietnamesen sind in ihrem Wohnheim dem Mob ausgeliefert. Gewalttäter setzen das Gebäude mit Molotowcocktails in Brand. Die Eingeschlossenen entkommen in Todesangst über das Dach. Erst gegen 23 Uhr machen Wasserwerfer der Feuerwehr den Weg frei.