Organizing im Callcenter – Niedriglohn, Willkür und direkte Aktion – Wie lassen sich Beschäftigte in Callcentern organisieren? Darüber sprach Mark Richter aus Frankfurt am Main mit Nico Hagenberg und Max Neekamp von der Rostocker Ortsgruppe der weltweiten Basisgewerkschaft «Industrial Workers of the World» (IWW). In dem Callcenter, um das es hier geht, arbeiten über tausend Menschen, und es gibt Pläne, Beschäftigte in der gesamten Branche zu organisieren.
Was genau macht ihr in dem Callcenter?
Nico: Wir leisten deutschlandweit technischen und kaufmännischen Support und arbeiten für große Dienstleister. Die meisten von uns sitzen in Großraumbüros mit zum Teil mehr als hundert Leuten, eingepfercht in enge Boxen und bearbeiten telefonische Anfragen, Mails und Chats. Die Kunden rufen bei uns an und wollen Hilfe, um ihr Internet wieder ans Laufen zu bringen. Wir unterstützen sie dabei. Manchmal haben sie auch ihre Rechnungen nicht bezahlt und wir erarbeiten mit ihnen ein Finanzierungsmodell.
Wie viele Personen sind in der Region, in der ihr lebt, in diesem Bereich beschäftigt?
Max: Bei uns in Rostock sind es ungefähr zehntausend, mehrheitlich Arbeiterinnen, die im Callcenter telefonieren müssen. Es ist dort ziemlich einfach, einen Job zu bekommen. Ein Großteil hat vor, nicht länger als zwei Jahre in dem Bereich zu arbeiten. Viele sind dann doch länger dabei, weil sie einfach keine andere Perspektive haben.
Nico: Die Problematik liegt direkt im System. Wenn man arbeitslos ist, wird man in Arbeitsbereiche vermittelt, in denen immer mehr Leute benötigt werden. Der Callcenter-Bereich wächst immer noch. Den Beschäftigten werden falsche Versprechungen gemacht, und am Ende bleibt nur noch, selbst zu kündigen, obwohl es dann eine Sperre vom Arbeitsamt gibt, die auch über drei Monate gehen kann. Dann bekommt man erstmal kein Arbeitslosengeld mehr. Viele bleiben deshalb weiterhin in diesem Modell und kommen aus der Spirale nur heraus, wenn sie nach langem Betteln vom Arzt eine Callcenter-Untauglichkeitsbescheinigung bekommen. Das ist die einzige Chance, nicht wieder im gleichen Bereich zu landen.
Seit wann organisiert ihr euch in dem Callcenter?
Max: Wir haben 2012 begonnen, zunächst ging es in erster Linie darum, uns selbst vor der Passivität der Vereinzelung zu schützen. Es war zu frustrierend, jede Schweinerei, die sich die Chefetage ausgedacht hatte, einfach hinzunehmen. Da dachten wir uns: «Eine kämpferische Gewerkschaft im Callcenter? Warum nicht?!»
Nico: Ausgangspunkt war, dass es ziemlich viel Willkür seitens des Arbeitgebers gab. Ein krasses Beispiel: Überstunden wurden einfach eingeplant, d.h. an manchen Tagen hatte man zehn Stunden im Dienstplan stehen. Noch krasser, auch wenn man sich darauf einstellen kann: Die Überstunden wurden nicht ausgezahlt, sondern mit anderen Zuschläge verrechnet. Damit konnten wir die Überstunden auch nur so abbauen, wie der Arbeitgeber das wollte. Es gab dann etwa solche Situationen: Mittags um 12 Uhr war auf der Hotline nicht viel los, dann wurde man für zwei Stunden nach Hause geschickt. Danach musste man weiterarbeiten. Das war eines der größeren Probleme, das uns dazu bewog, uns zu organisieren. Wir hatten außerdem keine bezahlten Toilettenpausen und keine bezahlte Bildschirmpause.
Das sind alles Sachen, die total an uns genagt haben. Auch die Sanktionsmaßnahmen seitens der Teamleiter waren total krass, Leute wurden an den Pranger gestellt oder verstärkt «ausgewertet», um sie unter Druck zu setzen, damit sie die passenden Zahlen «liefern».
Ihr habt mit Einzelgesprächen angefangen und einen Betriebsrat gegründet. Wie wollt ihr die Situation am Arbeitsplatz verändern?
Max: Ein Betriebsrat ist an sich schon ein ziemlich wirkungsvolles Mittel dafür. Mehr soll die Betriebsratsarbeit auch gar nicht leisten. Sie gibt einem hierzulande eine Menge Möglichkeiten. Da ist man auch durch den Rechtsstaat ein Stück weit abgesichert (lacht). Damit kann man gegen bestimmte Sachen vorgehen.
Unsere Betriebsgruppe verfolgt einen vollkommen anderen Zweck. Sie ist eigentlich das zentrale Instrument, der Betriebsrat ist letztendlich nur ein Mittel zur Durchsetzung dieser Interessen. Wir sagen jetzt nicht, wir wollen nur Betriebsratsarbeit machen. Denn damit stößt man an bestimmten Stellen auch an Grenzen. Nur weil man in dieser Position einen besonderen Kündigungsschutz genießt, gibt sie einem doch keinen «Freifahrtschein» zu tun und zu lassen, was man will.
Nico: Wir führen ziemlich viele Einzelgespräche und versuchen, Leute über die Betriebsarbeit zu integrieren. Das ist der erste Schritt, darüber versuchen wir die Kolleginnen und Kollegen dazu zu bewegen nachzusetzen, sich selbst zu verständigen und dementsprechend mit unserer Unterstützung zu agieren.
Max: Im Prinzip ist das die tägliche, grundlegende Arbeit: Beschäftigte sensibilisieren, auch dafür, dass sie ein Mindestmaß an Rechten haben, die sie in jedem Fall durchsetzen sollten. Das ist jetzt nicht die sozialistische Weltrevolution. Aber es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass man auch rechtlich etwas in der Hand hat, ohne Angst haben zu müssen, sofort den Arbeitsplatz zu verlieren.
Was ist denn ein erfolgreiches Beispiel für eine direkte Aktion?
Nico: Da gibt es mehrere Beispiele. So sollte Beschäftigte vor Weihnachten gekündigt werden. Wir haben uns selber als Presse ausgegeben und um ein Interview mit der Geschäftsführung gebeten. Darauf wurden die Kündigungen zurückgezogen. Direkte Aktionen sind häufig kleine Sachen, die oft in der Anonymität ablaufen.
Wir haben auch andere Sachen getestet, z.B. dass Beschäftigte 15 Minuten nach Dienstbeginn sagen, dass sie jetzt nach Hause gehen, da sie erkrankt sind. Die Leute bekommen die Stunden dann vom Chef gutgeschrieben und auch bezahlt. Solche Dinge machen total Sinn. Das haben wir auch in Situationen gemacht, wo alle Beschäftigten gebraucht wurden, das Komitee hat das gedeckt. Im Sinne von: «Du musst jetzt keine Überstunden mehr machen – mach einfach einen Dienstabbruch.»
Habt ihr Pläne, euer Komitee als branchenweite Gewerkschaft auszubauen?
Nico: Ja, solche Pläne gibt es. Zum einen gibt es Callcenter, die ihre Dienstleistungen anderen Firmen zu Verfügung stellen, zum anderen gibt es die «Inhouse-Center», die sind keine externen Dienstleistungsanbieter, sondern gehören direkt zur Firma X. Zwischen diesen beiden Typen von Centern gibt es ein großes Ungleichgewicht! Während die Beschäftigten in «Inhouse-Centern» meist bessere Arbeitsbedingungen und auch bessere Löhne bekommen, ist bei den externen Centern genau das Gegenteil der Fall. Zum Teil konkurrieren beide um den gleichen Auftrag. Eigentlich haben die Beschäftigten dadurch die gleichen Interessen, auch wenn dies nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Während die «Inhouse-Center» wegen der billigen Konkurrenz um ihre «guten Jobs» bangen müssen, streben die Beschäftigten der externen Center nach besseren Arbeitsbedingungen. Will man diesen Konflikt lösen, macht es Sinn, sich gemeinschaftlich zu organisieren.
Wir stehen deutschlandweit, vereinzelt auch international, mit Beschäftigten in verschiedenen Callcentern in Kontakt. Dabei versuchen wir ein paar Themen untereinander zu platzieren, um den Kolleginnen und Kollegen das notwendige Standing in der Belegschaft zu geben. Das funktioniert ganz gut. So versuchen wir eine Callcenter-Branchengewerkschaft aufzubauen, um zu sagen: Wir bilden eine Alternative zu den existierenden «Profigewerkschaften». Wir wollen stärker werden, indem die Einzelnen selber tätig werden, nicht durch die möglichst schnelle Aufnahme von Mitgliedern, die dann einmal im Vierteljahr eine Zeitung zugeschickt bekommen. Uns geht es darum, die Kolleginnen und Kollegen dazu zu animieren, sich mit der Ist-Situation der Gesellschaft und innerhalb des Betriebs auseinanderzusetzen. Das funktioniert gut, ist aber auch sehr zeitintensiv, weil man eben viele Gespräche führen muss.
* Nico Hagenberg (37) und Max Neekamp (23) sind Mitglieder der IWW, leben in Rostock und organisieren seit 2012 ein lokales Callcenter. Mehr über die Industrial Workers of the World im deutschsprachigen Raum auf www.wobblies.org.